Das BAG hat sich in einer aktuellen Entscheidung mit den Auswirkungen der neuen Rechtsprechung des EuGH und BAG zum Verfall von Urlaubsansprüchen auf den Zusatzurlaubsanspruch für schwerbehinderte Menschen auseinandergesetzt (Urteil vom 30.11.2021, 9 AZR 143/21) und gibt hierbei wichtige Hinweise für die Personalpraxis.

Der Hintergrund

Wir hatten bereits mehrfach auf die neue Rechtsprechung des EuGH und des BAG zum Verfall von Urlaub hingewiesen. Urlaubsansprüche können danach grundsätzlich nur dann untergehen, wenn der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber z. B. durch angemessene Aufklärung tatsächlich in die Lage versetzt wurde, die fraglichen Urlaubstage rechtzeitig zu nehmen, was der Arbeitgeber zu beweisen hat.

Für den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen stellt sich in diesem Zusammenhang u.a. die Frage, ob die arbeitgeberseitige Hinweis- und Mitwirkungsobliegenheit generell einen Hinweis auf einen Zusatzurlaub umfassen muss, auch wenn Ihnen als Arbeitgeber die Schwerbehinderung gar nicht bekannt ist.

Der Fall

Der Kläger verlangt die Abgeltung von Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen aus den Jahren 2016 bis 2018.

Der Kläger war von August 2016 bis zum 15. Februar 2019 bei der Beklagten als Sicherheitskraft beschäftigt. Er kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 3. Januar zum 15. Februar 2019 selbst.

Der Kläger ist seit Oktober 2014 als schwerbehinderter Mensch mit einem GdB von 50 anerkannt. Es ist streitig, ob der Beklagten bereits im August 2016 die Schwerbehinderung des Klägers bekannt war.

Die Beklagte hat den Kläger weder aufgefordert, Urlaub zu nehmen, noch hat sie ihn darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann.

Nach Ausspruch der Kündigung verlangte der Kläger vergeblich die teilweise Gewährung und Abgeltung von zwölf Tagen Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen (für 2016 anteilig zwei Tage, für 2017 und 2018 jeweils fünf Tage). Dem Urlaubsantrag hatte der Kläger eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises beigefügt.

Mit der vorliegenden Klage hat der Kläger die Abgeltung seines Zusatzurlaubs aus den Jahren 2016 bis 2018 verlangt. Der Zusatzurlaub sei nicht verfallen, weil die Beklagte ihren Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen sei. Unabhängig davon habe er die Beklagte bereits bei seiner Einstellung im August 2016 über seine Schwerbehinderung informiert.

Die Klage hatte erstinstanzlich Erfolg. Auf die Berufung der Beklagten wurde das erstinstanzliche Urteil vom Landesarbeitsgericht Mainz aufgehoben und die Klage abgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

Die Entscheidung

Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des zweitinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreites an das Landesarbeitsgericht.

1. Zwar habe der Kläger grundsätzlich einen Anspruch auf Zusatzurlaub nach dem SGB IX auch für die Jahre 2016 bis 2018. Die Zusatzurlaubsansprüche seien unabhängig davon, ob die Beklagte von der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers Kenntnis hatte, entstanden und auch nicht durch Erfüllung erloschen.

2. Ein Anspruch auf Urlaubsabgeltung setzte jedoch voraus, dass zum Zeitpunkt der rechtlichen Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein offener Anspruch auf Zusatzurlaub bestand, der wegen der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ganz oder teilweise nicht mehr gewährt werden konnte. Ob der Anspruch des Klägers auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen bereits mit dem Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres erloschen sei, stehe bisher jedoch nicht fest.

3. Die Befristung des Anspruchs auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen setze, wie die des gesetzlichen Mindesturlaubs, grundsätzlich voraus, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer durch Erfüllung seiner Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt hat, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen.

Seien die Voraussetzungen eines Zusatzurlaubsanspruches nach dem SGB IX erfüllt, habe der Arbeitgeber an der Verwirklichung des Zusatzurlaubs mitzuwirken.

4. Allerdings wären die Befristung bzw. der Verfall des Zusatzurlaubsanspruchs nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es dem Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch seine Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren.

Hiervon sei nicht nur auszugehen, wenn der Arbeitnehmer allein aufgrund einer langandauernden Erkrankung daran gehindert war, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, sondern auch, wenn es dem Arbeitgeber trotz gebotener Sorgfalt nicht möglich war, seine Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten zu erfüllen, z.B. weil dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung nicht bekannt und/oder nicht offenkundig war.

5. Vorliegend müsse das Landesarbeitsgericht jedoch noch aufklären, ob die Beklagte Kenntnis von der Schwerbehinderung hatte. Hierbei sei von folgenden Grundsätzen auszugehen:

Der Arbeitgeber trage nach allgemeinen Grundsätzen die Darlegungs- und Beweislast für die Tatsachen, aus denen sich ergeben soll, dass ihm die Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten unmöglich war. Beruft er sich darauf, dass er die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers weder kannte noch kennen musste, kommen ihm die Grundsätze der abgestuften Darlegungs- und Beweislast zu Gute. Der Arbeitgeber genügt deshalb seiner Darlegungslast zunächst, wenn er behauptet, ihm sei die Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht möglich gewesen, weil ihm die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht bekannt gewesen sei.

Den Arbeitnehmer treffe – bei vom Arbeitgeber behaupteter Unkenntnis – eine sekundäre Darlegungslast. Es sei seine Sache, unter Benennung der ihm zur Verfügung stehenden Beweismittel konkret vorzutragen, auf welche Weise er den Arbeitgeber in Kenntnis gesetzt hat, oder Umstände zu benennen, aus denen auf die Kenntnis des Arbeitgebers geschlossen werden kann.

Genügt der Arbeitnehmer seiner sekundären Darlegungslast, bleibt es bei dem Grundsatz, dass der Arbeitgeber seine Unkenntnis darlegen und – wenn nötig – beweisen muss. Er muss, will er seiner Darlegungslast gerecht werden, zum Vortrag des Arbeitnehmers konkret Stellung nehmen und für das Gegenteil sprechende Tatsachen und Umstände benennen sowie Beweis antreten. Hat der Arbeitgeber keine eigenen Kenntnisse über die vom Arbeitnehmer behaupteten Tatsachen, kann er sich auf die sich aus dem Vorbringen des Arbeitnehmers ergebenden Beweismittel stützen und die ihm bekannten Anhaltspunkte dafür vortragen, dass er entgegen den Angaben des Arbeitnehmers keine Kenntnis von dessen Behinderung hatte.

Das Wichtigste

1. Sofern Ihnen als Arbeitgeber die Schwerbehinderung eines Arbeitnehmers bekannt ist, kann der Anspruch auf Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen grundsätzlich nur dann verfallen, wenn Sie den Arbeitnehmer durch Erfüllung Ihrer Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten in die Lage versetzt haben, den Urlaubsanspruch zu verwirklichen.

2. Die Befristung bzw. der Verfall des Zusatzurlaubsanspruchs schwerbehinderter Menschen ist jedoch immer dann nicht von der Erfüllung der Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten abhängig, wenn es Ihnen als Arbeitgeber unmöglich war, den Arbeitnehmer durch Ihre Mitwirkung in die Lage zu versetzen, den Zusatzurlaub zu realisieren.

3. Haben Sie als Arbeitgeber keine Kenntnis von der Schwerbehinderung des Arbeitnehmers und ist diese auch nicht offenkundig, verfällt der Anspruch auf Zusatzurlaub auch dann mit Ablauf des Urlaubsjahres oder eines zulässigen Übertragungszeitraums, wenn Sie als Arbeitgeber Ihren Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten nicht nachgekommen sind.

4. Sofern Ihnen als Arbeitgeber die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers nicht bekannt ist, haben Sie – so das BAG – regelmäßig keinen Anlass, vorsorglich auf etwaigen Zusatzurlaub hinzuweisen und den Arbeitnehmer aufzufordern, diesen ggf. in Anspruch zu nehmen.

Vielmehr können Sie als Arbeitgeber regelmäßig erwarten, dass ein Arbeitnehmer Ihnen seine Schwerbehinderteneigenschaft mitteilt, wenn er den Zusatzurlaub wahrnehmen möchte. Unterlässt der Arbeitnehmer diese Mitteilung, kann er – obwohl der gesetzliche Zusatzurlaub nach § 13 BUrlG nicht disponibel und ein wirksamer Verzicht auf diesen nicht möglich ist – seine Rechte auf den Zusatzurlaub nach dem SGB IX nicht in Anspruch nehmen.

5. Als Arbeitgeber sind Sie somit nicht verpflichtet, jeden Arbeitnehmer anlasslos und gleichsam prophylaktisch auf den Zusatzurlaub für schwerbehinderte Menschen hinzuweisen. Solange Sie nicht wissen, dass der Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mensch ist, brauchen Sie einen Zusatzurlaub nicht anzubieten.

Weitere Informationen zum Thema Arbeitsrecht Hamburg erhält man auch unter https://scharf-und-wolter.de/fachanwalt-hamburg/fachanwalt-arbeitsrecht/ sowie unter Anwalt Hamburg